Der Mythos vom edlen und selbstlosen Ritter hat mit der spätmittelalterlichen Realität nichts gemein
Sie waren die Helden des Mittelalters – edel, hilfreich, bescheiden. Hoch zu Ross besiegten sie die ruchlosen Feinde und beschützten die Armen und Schwachen. Unzählige Hollywood Schinken und Jugendbücher wie «Ivanhoe» haben unser Bild von den Rittern geprägt. Eine neue Studie zeigt jetzt: Mit der historischen Realität hat dieses Bild wenig zu tun.
In seiner Dissertation «Ritterideal und Kriegsrealität im Spätmittelalter » kommt der Basler Historiker Rainer Lanz zu einem vernichtenden Urteil: «Das Ritterideal entpuppt sich – zumindest im Kriegsfall – als eine leere Worthülse. » So finden sich keinerlei Belege dafür, dass die Ritter den Frauen und Kindern besonderen Schutz geboten hätten. Und statt durch höfische Tugenden wie «zuht» und «mâze» zeichneten sie sich durch Eitelkeit, Hochmut und kaum vorstellbare militärische Stümperhaftigkeit aus.
In seiner Arbeit vergleicht Lanz das durch zahlreiche Verhaltensregeln und Heldenepen verbreitete Ritterideal mit der Realität spätmittelalterlicher Kriegszüge. Im Zentrum stehen das Herzogtum Burgund und Frankreich zwischen 1350 und 1400. Die seit kurzem online zugängliche Studie (www.dissertationen.unizh.ch/index2006.html) weist weit darüber hinaus.
Nach Gelage musste Invasion abgebrochen werden
Im Sommer des Jahres 1386 sammelte sich im Hafen des niederländischen Sluis ein riesiges Heer. Der französische König Karl VI. und seine mächtigen Fürsten und Grafen planten eine Invasion Englands, um mit einem schnellen Sieg den Hundertjährigen Krieg zu beenden. Die Stimmung unter den 3500 Rittern und ihrem Gefolge war hervorragend. Die letzte grosse Feldschlacht lag 30 Jahre zurück, jetzt bot sich Gelegenheit, Ruhm und Ehre zu erwerben.
Doch die Tage zogen sich hin, der Aufbruch nach England wurde immer wieder hinausgeschoben. Die Ritter verbrachten die Zeit damit, sich gegenseitig die Aufwartung zu machen und rauschende Feste zu feiern. Bald gings an den Proviant, der für die Überfahrt und die ersten Kriegstage gedacht war: gemästete Hühner und Fasane, wertvolle Gewürze wie Ingwer, Muskat, Zimt, auserlesener Brie, Bier aus Hamburg und Portwein aus Rumänien.
Zugleich begannen die Adligen damit, die im Hafen liegenden Schiffe zu verschönern. Schiffsbäuche wurden mit Gold und Silber verziert, die Segel mit Goldstoff und Seide bestickt. Die ärmeren Ritter plünderten Dörfer und Kirchen, um sich schadlos zu halten. Dass die Ritter während des monatelangen Wartens auch nur einmal eine taktische Formation oder die Landung in feindlichem Gebiet trainiert hätten, darauf gibt es in den Quellen keinerlei Hinweise. Im Herbst, als die Stürme ein Auslaufen nicht mehr zuliessen, wurde das heldenhafte Unternehmen abgebrochen.
Weder auf feindliche Taktik noch auf Klima vorbereitet
Dieses Verhalten, so kommentiert Historiker Lanz, «spottet dem Ideal des Ritters», der eigentlich ständig den Umgang mit der Waffe üben und sich durch Bescheidenheit, Masshalten und Demut hätte auszeichnen müssen.
Ebenso tölpelhaft verhielten sich die Ritter 1390 bei der Belagerung von Mahdia an der tunesischen Küste. Genua wollte die ständigen Angriffe von Piraten aus dem Königreich Tunesien unterbinden und schloss dazu mit Frankreich ein Bündnis. Die französischen Ritter drängten zum Kampf, denn die Expedition gegen die Sarazenen war ein Krieg gegen die Ungläubigen, ein Kreuzzug, auf dem sie den christlichen Glauben verteidigen und Gott dienen konnten.
Ende Juli setzten 100 Galeeren das französisch-genuesische Heer nach Tunesien über. Sechs Wochen wurde Mahdia, das als Stützpunkt der Piraten galt, belagert. Ohne Erfolg. Allzu dilletantisch hatte man die Sache angegangen, wie Lanz anhand der Quellen zeigt: Belagerungsmaschinen wie Torsionsgeschütze oder Wurfmaschinen hatten die französischen Ritter gar nicht erst mitgenommen. Und Holz liess sich vor Ort nicht auftreiben. Suboptimal war auch die Ausrüstung: Die schweren Eisenrüstungen eigneten sich schlecht für den Kampf in der hochsommerlichen Wüste. Die Sarazenen nutzten dies gnadenlos aus und griffen meist in der mittäglichen Gluthitze an. Viele Ritter starben an Erschöpfung.
«Die Ritter waren weder auf die Taktik der Feinde noch auf das Klima in irgendeiner Weise vorbereitet», schreibt Lanz.
Fragt sich nur, weshalb sich die Elite Europas so kopflos in ein Unternehmen stürzte, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Der Druck auf die Ritter, sich im Kampf Ruhm und Ehre zu erwerben, muss enorm gewesen sein, meint Lanz. Der Krieg war eine willkommene Gelegenheit, sich auszuzeichnen und sich zugleich auf einer Art «Pauschalreise » gut zu unterhalten. Dabei ging jede grundlegende militärische Planung vergessen. «Es war die Arroganz einer Elite», sagt Lanz. Über Jahrhunderte hatten die Ritter die Schlachtfelder Europas beherrscht. Nun waren sie unfähig, sich den veränderten Umständen anzupassen.
Verheerende Folgen hatte dies 1396 im Kampf gegen den osmanischen Sultan Bayezid I. Es war das letzte grosse Kreuzzugsunternehmen. Die Osmanen hatten im 14. Jahrhundert auf dem Balkan Fuss gefasst. Der ungarische König Sigismund rief den Westen zu Hilfe. Philipp der Kühne, Herzog von Burgund, versprach Unterstützung und setzte als Leiter der Expedition den eigenen Sohn ein. Papst Benedikt XIII. versprach allen TeilnehmernAbsolution. Der Andrang der Ritter war so gross, dass viele abgewiesen werden mussten.
Im Frühsommer 1396 sammelte sich das Heer aus französischburgundischen, englischen, polnischen und ungarischen Kämpfern im ungarischen Buda. Doch schon bald stritten sich die Anführer. König Sigismund wollte den Feind in Ungarn erwarten. Den Rittern passte das nicht: Sie seien nicht gekommen, um feige auf den Feind zu warten. So zog das alliierte Heer weiter bis nach Nikopolis im heutigen Bulgarien.
Die Schlacht wurde zum Debakel und Gemetzel
Die Belagerung – militärisch erfolglos – entwickelte sich zu einem bacchantischen Fest. Als Späher am 24. September den Anmarsch osmanischer Truppen meldeten, wurden die Ritter völlig überrascht. Nicht wenige waren angetrunken, die Schlacht am folgenden Tag geriet zum Debakel. Der ungarische König hatte den Befehl ausgegeben, mit dem Angriff zu warten. Doch die Ritter sahen sich um «la fleur de la journée» betrogen und preschten einfach los. Prompt gerieten sie in einen Hinterhalt und wurden niedergemetzelt. 3000 Überlebende wurden hingerichtet.
Ende des 14. Jahrhunderts, so folgert der Historiker Rainer Lanz, «genügten die Ritter weder in ihrer Rolle als Kommandierende noch als Befehlsempfänger minimalen militärischen Anforderungen. » War es denn früher besser? Entsprachen wenigstens die Ritter des Früh- und Hochmittelalters noch dem Ideal des disziplinierten Kriegers? Lanz vermutet es. Bislang wurde das Thema kaum erforscht. Er plant nun, die hochmittelalterliche Kriegsrealität in Deutschland zu untersuchen. Ob es ihm gelingt, unser falsches Ritterbild zu korrigieren, bleibt abzuwarten. Lanz: «Das Klischee vom edlen Ritter ist tief in unsern Köpfen drin.»
VON BALZ SPÖRRI – Sonntagszeitung vom 3.12.2006